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VG Göttingen, Urteil vom 17.06.2022, Az. 1 A 14/22
Regimekritische Äußerungen in sozialen Medien können Asylgrund sein – selbst wenn diese Äußerungen erst nach der Einreise nach Deutschland gemacht wurden
Das Verwaltungsgericht Göttingen hat entschieden, dass regimekritische Aktivitäten in russischen sozialen Medien wegen zu befürchtender Repressionen ein Nachfluchtgrund im Sinne von § 28 Abs. 1a i.V.m. § 3 Abs. 1 AsylG sein können (Urteil vom 17.06.2022, Az. 1 A 14/22).
Was war passiert?
Der 31 Jahre alte Kläger ist russischer Staatsangehöriger und von Beruf Ingenieur. Er reist am 01.08.2018 in Deutschland ein und stellt am 08.01.2020 einen Asylantrag.
Bereits seit 2009 war der Kläger Teil der russischen Antifaschismusbewegung.
Ab 2012 betrieb er eine eigene Website und pflegte einen Account bei VKontakte, dem „russischen Facebook“. Über die Website und den Socialmedia-Account postete er Artikel über Faschismus und Homophobie in Russland. Regelmäßig äußerte er sich auch grundsätzlich regimefeindlich. Durch die Aktivitäten wuchs die Anzahl seiner Follower bis 2017 auf über 12.000.
Im Februar 2017 sperrte die russische Polizei die Internetseite des Klägers, da er angeblich Hass verbreiten würde. Daraufhin löschte der Kläger auch seinen Account bei VKontakte. Trotzdem erhielt er mehrmals Besuch von der Polizei, weshalb er Russland Anfang 2018 verließ und nach Deutschland einreiste.
Der am 08.01.2020 gestellte Asylantrag wurde vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) abgelehnt, wogegen der Kläger sich vor dem VG Göttingen wehrte.
Was hat das VG Göttingen entschieden?
Das VG Göttingen sprach dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zu, da davon auszugehen sei, dass die russischen Strafverfolgungsorgane oppositionelle politische Aktivitäten mit unverhältnismäßiger und auch unberechenbarer Härte verfolgen würden.
Das Verwaltungsgericht berief sich dabei insbesondere auch auf die neuen Verschärfungen des russischen Strafrechts nach dem Angriffskrieg auf die Ukraine im Februar 2022. Die Strafandrohungen für die “Verbreitung falscher Informationen über russische Militäreinsätze” und die “Herabwürdigung der russischen Armee” würden Geldbußen von bis zu 1,5 Mio. Rubel oder einer Gefängnisstrafe von bis zu 15 Jahren nach sich ziehen.
Die potentiell besonders hohen und letztlich willkürlichen, nicht vorhersehbaren Strafandrohungen würden für sich genommen bereits eine unverhältnismäßige Bestrafung i.S.d. § 3a Abs. 1 Nr. 3 AsylG und damit eine Verfolgungshandlung darstellen. Dies wäre insbesondere deshalb beachtlich, weil die Zustände in russischen Gefängnissen unmenschlich und entwürdigend seien.
Was bedeutet das Urteil für die Praxis?
Die praktische Bedeutung des Urteils kann gar nicht überschätzt werden. Zwar entspricht es auch in anderen Ländern der ständigen Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte, dass Aktivitäten im Internet ausreichend für eine politische Verfolgung sein können. Allerdings stellt das VG Göttingen nun erstmals fest, dass allein die potentielle Höhe der Strafe und ihre Unberechenbarkeit im Einzelfall nach den sogenannten “Fake-News-Gesetzen” eine politische Verfolgung von Oppositionellen und Regimekritikern in Russland begründen kann.
Diese Erkenntnis kann durchaus auf andere Fälle von politischen Aktivisten übertragen werden.